Dienstag, 23. April 2013

Morgenthau – Eine andere Sichtweise auf einen abgewendeten deutschen Alptraum

Wieder schreiben wir morgen den 24.April, wieder werden an diesem hierzulande kaum bekannten Gedenktag vermutlich keine Fernsehberichte über den ersten Völkermord des 21.Jahrhunderts an den christlichen Minderheiten im osmanischen Reich zu sehen sein.

„Der wahre Zweck der Deportation war Raub und Zerstörung, diese war in der Tat nichts anderes als eine neue Methode der Ausrottung. Als die osmanischen Behörden den Auftrag zu diesen Deportationen gaben, so sprachen sie das Todesurteil gegen ein ganzes Volk aus, sie wussten dies genau und das gut und versuchten das auch in unserer Anwesenheit nicht zu verstecken“ [Henry Morgenthau, Ambassador Morgenthau’s Story (New York: Doubleday, Page & Co.: 1919), pp. 307-309, 321-323]

Wir alle, und da kann ich wohl für jeden deutschen Staatsbürger sprechen, sind heute zurecht froh darüber, dass sich der Plan des US- Amerikanischen Finazministers Henry Morgenthau bzgl. des deutschen Werdegangs nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durchsetzen konnte und wir stattdessen bis heute von den positiven Auswirkungen des Marshallplans profitieren dürfen. Heute lernen Schüler aller Schulformen sehr ausführlich, was der Marshallplan bedeutete. Zum Morgenthauplan hingegen wird nur gesagt, dass er einen nie zur Realisierung vorgesehenen Gegenentwurf zu diesem darstellte, der die Herunterwirtschaftung Deutschlands zu einem reinen Agrar – und Bauernstaat vorsah.
Wer Henry Morgenthau überhaupt war und was ihn zum Entwurf einer derart drastischen Maßnahme und zu seinem späteren Buch „Germany Is Our Problem“ bewegte, darüber lernen wir nichts, nicht einmal in Vorlesungen oder Seminaren an unseren Universitäten. Henry Morgenthau jr. war der Enkel jüdischer Einwanderer aus dem deutschen Mannheim. Sein Vater war zwischen 1913 und 1916 US-Botschafter in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. 1918 verfasste er einen Bericht über seine Erfahrungen dort.
Zwischen Kapitel 14 und 18 beschreibt er darin ausführlich und detailliert, wie er Zeuge des Völkermordes an den Armeniern wurde.
Hier der Link zum Buch:
Gesamtübersicht: Ambassador Morgenthau's Story
Kapitel 14: Ambassador Morgenthau's Story


Aus diesem Bericht stammt auch zu Beginn angeführtes Zitat. Wir halten also fest das Henry Morgenthau jr. mindestens durch Erzählungen seines Vaters Zeuge des ersten Völkermordes des 20. Jahrhunderts geworden sein musste und ebenso wie bei seinem Vater – das wird aus o.g. Bericht klar deutlich – haben wohl auch bei ihm die Greueltaten der Jungtürken bleibenden Eindruck hinterlassen. Das deutsche Kaiserreich war bekanntlich im ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet und lieferte Technologie, Infrastruktur und militärische Unterstützung für die systematischen Massaker an christlichen Minderheiten.
Die Ignoranz und Gleichgültigkeit des kaiserlich-deutschen Botschafters im Osmanischen Reich beschreibt Morgenthau Sr. in Kapitel 17 seines Berichts: Ambassador Morgenthau's Story.
So werden auch im deutschen Reich Presseberichte über die, bis zum diesem Zeitpunkt beispiellosen und in dieser Größenordnung noch nie dagewesenen ethnischen Säuberungsmaßnahmen, zensiert und erst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg publik. Viele osmanische Kriegsverbrecher entgehen einer Auslieferung an die Alliierten indem sie sich ins Exil nach Deutschland flüchten. Prominentestes Beispiel hier ist sicherlich Talât Pasa, der am 15. März in der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg von Soghomon Tehlirian erschossen wird.
Das Protokoll zum Prozess gegen Tehlirian findet man hier:
Trial of Soghomon Tehlirian

Doch auch u.a. das osmanische Pendant zu Adolf Eichmann, Dr. Baheddin Cakir, findet in Berlin Zuflucht. Beide o.g. Massenmörder und Kriegsverbrecher werden bis heute auf dem türkischen Friedhof der von der DITIB betriebenen Berliner Sehitlik-Moschee verehrt – Ein Skandal!

Bild aus dem Reisebericht Armin T. Wegners

Man muss wissen, dass der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. nicht nur Kriegsverbündeter sondern auch ein persönlicher Freund von Talât war. Eben jener Kaiser, der Deutschland und die Welt in einen verheerenden Weltkrieg stürzte und vom seinem Exil aus Briefe schrieb, in denen er „das Volk Judaä“ für seine Kriegsverbrechen verantwortlich machte. Wir halten also fest Morgenthau Sr. und Morgenthau Jr. erleben, wie die Welt von deutschem Boden aus in einen Krieg gestürzt wird. Sie werden als Diplomatenfamilie hautnah Zeuge wie erstmalig im 29. Jahrhundert ein ganzes Volk systematisch und mit akribisch kalkulierter ethnisch motivierter Grausamkeit auf seinem seit mehr als einem Jahrtausend angestammten Siedlungsgebiet quasi ausgerottet wird. Sie erleben wie die Täter ihren Strafen entgehen, lediglich in Abwesenheit verurteilt werden, ohne dass je ein Urteil vollstreckt würde, wie die wenigen überlebenden anatolischen Armenier 1923 durch die Konferenz von Lausanne und die Rücknahme der Gründung der Republik Hayastan nun endgültig aus ihrer Heimat fliehen müssen und gleichzeitig im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg antisemitische Demagogen peu à peu immer mehr Zulauf bekommen. Haben schon damals die bei den Morgenthaus die Alarmglocken geläutet? – Ich kann nur mutmaßen, aber es erscheint mir logisch. Als die Welt 1938-1945 ein zweites Mal und diesmal noch verheerender und grausamer von deutschem Boden aus in Brand gesetzt wird, dürften die schlimmsten Befürchtungen der deutsch-jüdischen Migrantenfamilie eingetroffen sein. Übertroffen wurden sie zweifelsohne als das ganze Ausmaß der Tragödie und Grausamkeit bei Eintreffen der alliierten Streitkräfte in den KZs deutlich wurde.

Eine nicht für möglich gehaltene grausame technokratische Weiterentwicklung der Ereignisse im osmanischen Reich war Realität geworden, die Shoah hatte stattgefunden und diesmal war das Volk der Morgenthaus, die wenige Jahre zuvor unmittelbare Zeugen der niemals geahndeten und mit kaiserlich-deutscher Unterstützung durchgeführten Verbrechen der jungtürkischen Führung des osmanischen Reichs an seinen christlichen Minderheiten wurden, selbst Opfer eines nun noch kaltblütiger und technokratischer durchgeführten Völkermordes, einem fatalen Déjà-Vu der Weltgeschichte. Weiterführend möchte ich hier empfehlen, sich der Lektüre Jean-Marie Carzous "Un génocide exemplaire" zu widmen.
Ich erinnere mich an einen Satz, in dem ein ehemaliger Geschichtslehrer einmal den Morgenthauplan abtat: "Der Morgenthau das war ein ganz radikaler Deutschenhasser". - Bei genauerer Betrachtung eine unhaltbare und reißerische Parole.

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